"Der Westen verliert die religiösen Werte" - Imam Jelassi - Tessiner Zeitung
Tessiner Zeitung, 19.10.2012
Imam Samir Radouan Jelassi schlägt vor sich bei der Treppe am Haupteingang der Università della Svizzera Italiana (USI) in Lugano zu treffen:“An diesem Tag bin ich sowieso schon dort und dann können wir irgendwo ein ruhiges Plätzchen für das Interview finden.”An der USI ist der religiöse Führer und Gründungsmitgliede der Lega der Muslime im Tessin ein einfacher Doktorand, der mit seinen Kollegen in einem Grossraumbüro für seine Abschlussarbeit büffelt. Anders als es zum Beispiel Luganos orthodoxer Rabbi (siehe TZ vom 31. August) oder der buddhistische Mönch des Centro Menla in Locarno (siehe die letzte Ausgabe der TZ) machen, erkennt man den Imam in seiner Freizeit nicht an seiner Kleidung.
Mit einer kleinen Verspätung kommt ein schwarzhaariger Mann mit Bart, Mitte 40 in einem dunkelblauen Hemd, einer grauen Hose und einer Aktentasche unter dem Arm an dem er auch eine schwarze Casio-Digitaluhr trägt. Er schlängelt sich zwischen den Studenten und Studentinnen, die die letzten warmen Sonnenstrahlen in diesem Jahr geniessen, durch. Manche erkennen und begrüssen ihn. Angesprochen wird er auf Französisch – “Bonjour Imam!” – und auf Italienisch – “Buongiorno Imam!” – und manchmal auch einfach nur mit “Ciao!” Er wählt einen runden Tisch auf einem kleinen Balkon im erhöhten Erdgeschoss für das Interview. An seinem Schreibtisch will er kein Interview geben, denn er will seine Kommilitonen nicht stören.
Imam Jelassi ist Interviews gewöhnt. Er muss oft Stellung zu weltpolitischen Ereignissen, die Muslime oder den Islam betreffen, beziehen. Alle drei Tessiner Tageszeitungen sprechen regelmässig mit ihm. Zuletzt als es in Pakistan und Afghanistan Proteste gegen den Trailer zum islamkritischen Film “The Innocence of Muslims” gab und die französische Satirezeitschrift “Charly Hebdo” daraufhin eine Mohammed-Karikatur veröffentlichte. Gegenüber der TZ meint Imam Jelassi: “Das war ein verantwortungsloses Handeln, dass kulturell geschmacklos und respektlos war. Es war vor allem vulgär und ehrabschneidend gegenüber dem Propheten von Islam, Figur welche von fast 1.5 Milliarden Menschen auf der Erde gefolgt wird. Dieser unmoralische Angriff an dem Islam entspricht ein Angriff an allen Weltreligionen. Ausserdem ist der Film künstlerisch schlecht. Das Ziel dieser Produktion war die Provokation, doch weder Provokation noch Gewalt bringen etwas. Wir müssen danach trachten respektvoll zusammenzuleben”. Er hatte einen ähnlich lautenden Appel an Politiker und Religionsführer lanciert. Er betont: “Religion ist ein ernstes Phänomen; sie zu beschimpfen verstosst schwer gegen der Menschenwürde. Wenn ein solcher Film über den Papst gemacht würde – geschweige denn über den Messias Jesus (in Islam als wahrhafter Prophet anerkannt) - würden wir Muslime eine solche Empörung denunzieren”. Imam Jelassi ist französischer Staatsbürger. Er hat in einem laizistischen studiert. Der private Charakter der Religion in Europa führe, so meint er, aber letztlich zu einer Wertekrise: “Der Westen verliert die religiösen Werte und erlebt eine moralische Krise”.
Seine Erfahrung mit den Medien ist Imam Jelassi anzumerken. Auch wenn die Diskussion um Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit heikel wird, verliert er nie seine Gelassenheit. Dinge, die im wichtig sind wiederholt er, betont er, so dass der Journalist beim Lesen seiner Notizen das Wort “Multikulturalität” oder “Integration” jeweils mehr als zehn Mal entdecken wird. Denn das sind die Pfeiler der Lega der Muslime im Tessin. In die Moschee in Viganello kommen Gläubige aus sehr verschiedenen Hintergründen. Sie stammen von unterschiedlichen Ethnien, manche wurden in der Schweiz geboren (zum Islam konvertiert oder „Secondo“), manche in Europa und manche gar auf einem anderen Kontinent. Für den Imam macht gerade diese Vielfalt den Reichtum seiner muslimischen Gemeinschaft aus: “Zum Freitagsgebet kommen etwa 100 Personen aus zwanzig verschiedenen Nationen. Bei der letzten Ramadangebet haben über 700 Menschen zusammen gefeiert.” Dass Muslime trotz aller Integration bei manchen alltäglichen Dingen Schwierigkeiten haben gibt er zu. Halal-Fleisch, Fleisch, das nach islamischen Ritus geschlachtet wurde, sei im Tessin kaum zu bekommen.“
Die Liga der Muslime im Tessin – Lega dei Musulmani in Ticino – entstand im Juni 2005. Sie sei aus dem Wunsch einiger Gläubiger nach einem Verein, der die Schura (das Prinzip der Beratung) respektiert und die Teilnahme am demokratischen Prozess promoviert, entstanden. Das Komitee und der Präsident des Vereins werden seit der Vereinsgründung von den Mitgliedern gewählt. Zu den Gründern der Liga gehört auch Imam Shaykh Samir Radouan Jelassi, der zuvor fünf Jahre lang der Leiter und religiöse Lehrer der Moschee der islamischen Gemeinschaft des Kantons Tessin gewesen war. Die Liga der Muslime betreibt ihre eigene Moschee in Viganello. Bereits zwei Jahre nach der Gründung der muslimischen Liga besuchten etwa 80 Personen das Freitagsgebet und etwa 250 Personen kamen an den wichtigsten islamischen Festen in die Moschee, wie Michela Trisconi de Bernardi 2007 im kantonalen Repertoire der Religionen festhielt. Die Mitglieder haben unterschiedliche religiöse Hintergründe und spiegeln damit auch die Heterogenität der muslimischen Gemeinschaft im Tessin wider. Ideologisch ist die Liga der Muslime der Strömung der Sunniten zuzuordnen, wie de Bernardi in ihrem Panorama der Religionen schrieb. Doch sie sei für alle anerkannten Schulen der islamischen Jurisprudenz offen. Die Liga definiert sich selbst als Versammlungsort für alle Muslime, ungeachtet ihrer Ethnie und ihrer Herkunft und will sich der Herausforderung den muslimischen Glauben in der westlichen Gesellschaft zu leben, annehmen.
Samir Radouan Jelassi wurde in Tunesien geboren. Er ist der einzige ausschliesslich in Europa ausgebildete Imam und gilt, laut Swissinfo.ch, als einer der am besten ausgebildeten Imame in Europa. In der Tasche hat er ein französisches Lizenziat in Rechtswissenschaften, einen Master in Kommunikationswissenschaft und derzeit arbeitet er an seiner Doktorarbeit an der (USI) in Lugano. Ausserdem besuchte er Vorlesungen der islamischen Studien am europäischen Institut der Humanwissenschaften. Von 1992 bis 1997 war er Imam und Religionslehrer in Grenoble. Seine Aufgaben umfassten die Lehre, die Direktion der Schule und interkulturelle Mediation. Er war Mitglied des regionalen Imamrates sowie des Verwaltungsrats des Vereins der islamischen Kultur in Isère.
Zur Zeit ist er Mitglied der eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM), Mitglied der Arbeitsgruppe für mögliche Aus- und Weiterbildungsprogramme für Imame in der Schweiz, Mitglied der Platform „Forum Islam", Mitglied der FODINT in Tessin (Forum für einen interreligiösen Dialog) und Mitglied der kantonale Kommission für die Einführung vom Unterricht „Geschichte der Religionen“ in der Mittelschule (Kantonsdepartement für die Ausbildung).
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